Eine kleine Übung zur Infragestellung der geistigen Komfortzone
Angenommen, sie gehen nach einem wunderbar erfrischenden Frühsommerregen spazieren. Aus Versehen treten sie in eine Pfütze, die eher intuitiv, kaum wahrnehmbar etwas anders als die anderen aussieht. Überrascht müssen sie feststellen, dass es ein Zeittor war und sie sind dadurch im Jahr 5018 gelandet. Sehen sie sich um – wie sähe die Welt aus?
Gibt es die Erde noch? Wahrscheinlich, aber gewiss ist es genauso wenig wie unsere Annahme, dass auch morgen die Sonne wieder aufgeht… Wir haben uns daran gewöhnt, Geschichte als einen mehr oder weniger linearen Prozess ohne große Brüche zu denken. Erdgeschichte, menschliche Vorgeschichte, selbst die bekannte Geschichte untergegangener Zivilisationen sollte uns eines Besseren belehren. Wir glauben in erster Linie an einen konstanten Fortschritt, den wir als jetzt Lebende ja auch tatsächlich bisher so erlebt haben.
Erkennen Sie die Gegend noch? Das hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab. Der erste Faktor betrifft alle Ereignisse, die nicht im Handlungsspielraum des Menschen liegen, also v.a. ob die Erde in dieser Zeit unter weitgehend stabilen Verhältnissen ohne größere kosmische Katastrophen existiert hat. Gab es in den kommenden dreitausend Jahren vielleicht große Meteoriteneinschläge, massive Sonneneruptionen, vielleicht eine Umpolung? Oder hat sich wieder einmal eine Eiszeit eingestellt, hat sich – durch welche Einflüsse auch immer – ein Klimawandel ereignet und der Meeresspiegel ist um vielleicht hundert Meter gestiegen, ist einer oder sind sogar mehrere Supervulkane aktiv geworden? Die Chancen sind für mindestens eines dieser Ereignisse in den nächsten tausenden Jahren recht hoch.
Stehen sie also vielleicht plötzlich vor Kälte zitternd unter einem rußig-dunklen Himmel in einer verbrannten Einöde, vielleicht sogar in einem riesigen Krater oder sehen sie frierend vor sich märchenhaft-blaues Eis in einem Gletscher oder ist vor ihnen statt des Weges der Meeresgrund und die Luft wird knapp.
Von all diesen Ereignissen wissen wir heute, dass sie in der Vergangenheit einen massiven Einfluss auf die Erde und das Leben auf diesem Planten hatten. Erstaunlicherweise haben einige dieser Umwälzungen nicht etwa den Charakter eines langsamen, kontinuierlichen Wandels, sondern einer sehr schnellen, in erdgeschichtlichen Dimensionen sogar blitzartigen Veränderung.
Der zweite Faktor betrifft die Ereignisse, auf die der Mensch direkt oder indirekt Einfluss hat. Ob es also immer noch (oder wieder) Menschen gibt, wie viele es sein werden und welches Verhältnis sie zu ihrer Umwelt haben werden. Neben den oben aufgezählten Ereignissen, die durch plötzliches Massensterben, Hungersnöte bzw. den Zusammenbruch der technischen Zivilisation sicher einen erheblichen Einfluss auf die Menschheit als Ganzes hätten, ist der Mensch selbst ein Faktor, der die Fähigkeit zur Veränderung der Welt bis hin zur Auslöschung der eigenen Art hat.
Unsinnig, aber zumindest machbar, wäre ein atomarer Weltkrieg. Verheerende Seuchen durch bisher unbekannte oder mutierte Erreger oder durch gentechnische Veränderungen an Krankheitserregern sind fast wahrscheinlicher. Pest und Cholera bekämen wir mit moderner Medizin voraussichtlich in den Griff, bei der Spanischen Grippe gäbe es deutlich größere Probleme. Letztlich hat der Mensch als Spezies auch die Fähigkeit zu einer breiten Vergiftung seiner natürlichen Lebensgrundlagen.
Aber angenommen, es ist für die Menschheit nicht katastrophal gelaufen und sie hat die art-bedrohenden Probleme irgendwie lösen können. Wie viel Menschen werden auf der Erde leben? Wenn sich das Bevölkerungswachstum so wie in den letzten fünfzig Jahren weiterentwickelt, werden sie wahrscheinlich sofort irgendeinem anderen, voraussichtlich hungrigen Menschen auf den Fuß treten. Obwohl ich Optimismus für eine gesunde Grundeinstellung zum Leben halte, ist es dennoch sinnvoll, auch zu rechnen und sich nüchtern durch die Zahlen in die Realität zurückholen zu lassen.
Schon bei den heutigen Prognosen für das Bevölkerungswachstum für die nächsten 30 Jahre allein in Afrika ist recht leicht zu sehen, dass wir bald ein Ernährungsproblem und daraus folgend ein (noch größeres) Migrationsproblem und ein Umweltproblem bekommen werden. Landwirtschaftsfläche ist keine „unberührte Natur“, auch kein Wald und sie benötigt meist zusätzliches Wasser und Düngung.
So sehr wir in der westlichen Welt unseren Individualismus pflegen, als Menschengruppen, Familien, Stämme, Völker verhalten wir uns eher wie biologische Populationen, die um Ressourcen konkurrieren. Eine „Menschheit“ als handelndes historisches Subjekt ist ein idealistisches Konstrukt – und ein begriffliches Instrument der Herrschenden, um im Namen „der Menschheit“ meist irrwitzige „Verbesserungs-Projekte“ zu starten, nach deren Abschluss ein paar Millionen Menschen tot sind.
Ein kurzer Ausflug noch zu einem echten Schmerzpunkt: wird es in dreitausend Jahren noch Kriege geben oder leben wir dann im „ewigen Frieden“? Letzteres wäre schön und da die Leser dieses Artikels in Friedenszeiten aufgewachsen sind und leben, ist dieser Gedanke verlockend. Ein Blick auf all die Länder, die eben nicht in den Urlaubskatalogen sind, kann helfen, sich mit unerfreulichen Tatsachen anzufreunden. Zumindest hat es noch keine größere Zivilisation ohne eine starke Armee gegeben. Vielleicht haben wir in dreitausend Jahren Kriege auch einfach als Kampf von Gruppen um Ressourcen oder als in der menschlichen Natur liegend akzeptiert und wenigstens zivilisiertere Formen der Austragung gefunden.
Aber kommen wir zurück zu unserem Gedankenspiel: wird es noch Wege und Straßen geben, weil Menschen, Tiere oder Wagen laufen oder fahren oder haben wir den Verkehr weitgehend in den Luftraum verlegt? Was wird transportiert und was wird vor Ort produziert werden? Wie werden Produktion, Verteilung und Konsumtion aussehen – technisch, organisatorisch, sozial? Wie wird die Wirtschaft organisiert sein? Wird es eine freie Marktwirtschaft geben oder eine gesellschaftlich organisierte und vielleicht sogar geplante Wirtschaft? Und wird sie für die einzelnen Menschen, Familien, Gemeinschaften oder Gesellschaften stabil und gut funktionieren? Wird es noch Geld geben und wie wird es aussehen – immer noch als Papier oder völlig digital, oder werden wir Muscheln oder Gold tauschen? Wird das Geld gedeckt sein und wenn ja, womit?
Es ist kaum anzunehmen, dass Geld als zentrales Steuerungsinstrument der menschlichen Gesellschaft noch so lange herrschen wird. Als funktionales Tauschmittel wird es ohne Zinseszinsdynamik vielleicht überstehen. Ob es eine Wertaufbewahrungs- und Sparfunktion benötigt, hängt ganz erheblich davon ab, wie die Gesellschaften aussehen werden und welche politischen und religiösen bzw. spirituellen Prinzipien dem Zusammenleben der Menschen von den kleinen Gruppen bis hin zu den Großgruppen als Leitprinzipien dienen werden. Wie werden sich die Menschen spontan organisieren oder werden sie technokratisch verwaltet? Wie viel Gleichheit unter den Menschen wird gewollt und nötig sein, um den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten, wie viel Ungleichheit wird nötig sein, um die Dynamik in der Gesellschaft zu erhalten? Vor Gott mögen, vor Gericht sollten alle gleich sein, aber in welchem sozialen Rahmen sind solche Konzepte noch ohne Zwang umsetzbar – Regionen, Staaten oder Stammesverbände, auf der ganzen Welt?
Grundsätzlich ist wohl die Frage, ob es auch 5018 eine Art von Zivilisation oder mehrere geben wird und ob sie für alle Menschen verfügbar sein wird oder nur für Teile von ihr.
Sicher werden Bildung und Wissenschaft ganz anders aussehen als jetzt. Wenn sie aus Versehen in eine andere Pfütze getreten wären, die sie 3000 Jahre zurück versetzt hätte, wäre ihnen der Unterschied recht schnell klar. Sie wären im Jahr 1018 vor unserer Zeitrechnung. Griechenland ist von seiner Blüte noch ein paar Jahrhunderte entfernt, die großen Denker der Antike sind noch nicht geboren, Rom nicht einmal gegründet, die mit der Renaissance beginnende Neuzeit mit ihren wissenschaftlichen und technischen Neuerungen ist aus dieser Perspektive „vorhin“ passiert, die Industrialisierung hat quasi „gestern“ begonnen.
Gerne sonnen wir uns in der Vorstellung, nicht nur sehr viel zu wissen, sondern tatsächlich fast alles verstanden zu haben. Experten, Spezialisten aller Disziplinen vermitteln gerne den Eindruck von Sicherheit, Machbarkeit und die neu hinzukommenden Erkenntnisse seien quantitativ Bereicherungen unseres bisherigen Wissensstandes. Wahrscheinlicher ist es allerdings, dass es mehr als einen qualitativen Sprung oder Bruch in unserer Vorstellung der Welt und des Universums in diesen 3000 Jahren geben wird. Veränderungen, auf die wir als Menschen gar keinen Einfluss haben, sind noch gar nicht mit-bedacht.
Sie können und sollen gerne für sich weiterspinnen und falls sie jetzt glauben, dass alles liegt ja in weiter Zukunft und die kommenden Generationen müssen sich damit auseinandersetzen – vor dreißig Jahren kamen langsam Computer auf, vor zwanzig Jahren war ein Handy noch Koffer-groß, damals waren die Schuldenberge, die die Staaten der westlichen Zivilisation angehäuft hatten, im Vergleich zu heute ein leichter Staub auf den Staatsfinanzen im Vergleich zu den Müllbergen an Fantastilliarden, die heute schon die künftigen Generationen belasten werden. Mitte der 70-er Jahre erreichte die Weltbevölkerung die vier Milliarden, 2011 waren es schon sieben Milliarden. Wer also (statistisch) noch mindestens zwanzig Jahre zu leben hat, sieht spannenden Zeiten entgegen.
Als kleine Abschlussübung: Was sagen ihre Vorstellungen, wie das Jahr 5018 aussieht darüber aus, wie sie die Welt heute sehen?