„…Der Fehler steckt schon im Ansatz. Das Denkmodell: hier Rechtsstaat – dort Tyrannis ist falsch, zumindest eine unzulässige Vereinfachung. Die Grenzen zwischen Rechtsstaat und Unrechtsstaat sind fließend. Es gibt keinen Staat, der der Gefahr einer Perversion zum Unrechtsstaat entrückt wäre. Die Perversion beginnt bereits da, wo man das Recht und den Rechtsstaat als etwas Gegebenes ansieht, das man hat, als einen Zustand, den es zu erhalten gilt, als ein erreichtes Ziel, an dem man sich ausruhen kann. Die Folge dieser Denkweise ist notwendig eine Versteinerung, Erstarrung und damit Entfremdung des Rechts, denn nur dann kann Recht wirklich Recht bleiben, wenn es am Leben erhalten, d.h. unablässig neu gestaltet und fortgebildet wird. Leben ist nicht Zustand, sondern Prozeß.
Erst von hier aus erschließt sich auch das Wesen des Widerstandsrechts. Es ist nicht – zumindest nicht primär – das letzte Mittel gegen einen bereits völlig pervertierten Staat, seine erste Funktion ist vielmehr, schon den Anfängen der Perversion zu wehren. Der beharrliche Wider-stand gegen den bestehenden Zu-stand ist notwendig, damit Recht und Rechtsstaat immer und immer wieder regeneriert werden, so daß es zu einer solchen Ausnahmesituation gar nicht erst kommt, in der dem Unrecht allenfalls noch mittels Gewalt begegnet werden kann. So verstanden, ist der Widerstand ein Wesenselement des Rechts, gleichsam sein dynamisches Element und als solches einer gesetzlichen Fixierung naturgemäß entzogen.
Widerstand in diesem Sinne ist keine Sache der Gewalt, und sollte Gewalt tatsächlich einmal nicht zu vermeiden sein, so ist sie doch keinesfalls ein Essentiale des Widerstandsrechts. Widerstand ist eine Sache des Geistes, eine staatsbürgerliche Haltung in vielfacher Schattierung: Mißtrauen gegenüber den Mächtigen, Mut zu offener Kritik, Neinsagen zum Unrecht, auch und gerade wenn es „von oben“ kommt oder die „herrschende Meinung“ ist, Weigerung, einem als verwerflich erkannten Ziel zu dienen, Kundmachung widerrechtlicher geheimer Staatsaktionen – der Möglichkeit sind Legion.
Widerstand ist eine Absage an jene Haltung, die hierzulande als eine hochgeschätzte Tugend sogar sprichwörtlich geworden ist: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ – „Gehorsam ist des Christen Schmuck“.
Man fasse das aber nicht als eine Aufforderung zu Krawall und Revolte auf. Es geht um etwas ganz anderes: um die geistige Unruhe, das cor inquietum, und um überlegtes, eigenverantwortliches Handeln…“
Prof. Dr. iur. Arthur Kaufmann, Widerstandsrecht, 1972, S. XII/XIII