Meine Frau möchte mir ein Geschenk machen. Ja, immer gerne! Sie drückt mir ein schweres Paket in die Hand und heraus kommt – ein Buch: Ayn Rand – „Der freie Mensch“. Die Überraschung ist gelungen. In Deutschland war das Buch bisher nicht einfach zu bekommen, ältere Ausgaben bei Amazon findet man als Gebrauchtexemplare für Preise zwischen 300-480 Euro. Jetzt liegt dieser 1957 erschienene Klassiker der Libertarismus neu übersetzt im thinkum Verlag für 50 Euro vor. Aber 1487 Seiten sind auch für mich eine echte Herausforderung und bei diesem Brocken mit über 2 kg ist ein Buchhalter nötig.
Ob „Der freie Mensch“ eine Philosophie in Romanform oder ein philosophischer Roman ist will ich nicht entscheiden, aber in meiner gesamten bisherigen Lektüre bildet dieses Buch eine Art geistige Insel, es passt in vieler Hinsicht in keine Schublade. Es gibt zur philosophischen Tradition des Abendlandes – von Aristoteles einmal abgesehen – keine Verbindungen. Ein positiver Bezug zur christlichen Tradition ist ihr fremd. Dystopie und eine Utopie werden in einem Werk gegeneinander gestellt. Selbst die Liebesbeziehungen der Hauptfigur sind irgendwie philosophisch, aber keineswegs blutleer. „Der freie Mensch“ ist eher der amerikanische Traum von Freiheit, dem Streben nach Glück und freiem Unternehmertum in Buchform – nur ganz anders als wir das aus Hollywood kennen. Und nebenbei: Ayn Rand hat 25 Millionen ihrer Bücher verkauft.
„Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still“ hat bei Ayn Rand eine gänzlich andere Bedeutung als wir sie in Europa sofort assoziieren. Was würde geschehen, wenn die Leistungsträger einer Gesellschaft, im Buch sind es v.a. die Industriellen über den Erfinder bis zum echten Philosophen, einfach hinwerfen und in den Streik gehen und damit die steuerfinanzierten Plünderer aller politischen Farbvarianten sich selbst überlassen? Und weitergedacht: Was geschähe, wenn der Eisenbahner, der Bauer und der Vorarbeiter im Stahlwerk plötzlich einfach weg wären und die Politiker samt Staatsapparat, die Journalismus-Simulatoren und die Tausenden Berater, Anwälte und Sich-auch-irgendwie-wichtig-Meinenden plötzlich allein wären? Diese Idee spielt Ayn Rand in diesem Buch radikal mit so zwingender innerer Logik bis in die Details durch, dass am Ende nur ein gesellschaftlicher Trümmerhaufen übrig bleibt – und ein gut vorbereiteter Neuanfang.
Wenn sie jetzt ein leises Lächeln auf den Lippen haben, sollten sie das Buch lesen. Es ist spannend geschrieben, sie werden nicht lange brauchen, um mit den Akteuren des Romans mitzudenken und zu fühlen. Ihr Lächeln wird sicher irgendwann schmaler werden, wenn ihnen bewusst wird, wie aktuell dieses Buch ist.
Wenn sie dagegen entrüstet den Kopf schütteln oder auch nur der Gedanke an Gemeinwohl, Menschlichkeit oder Altruismus durch ihren Kopf geistert, sparen sie sich das Geld. Sie werden nicht weit kommen oder einen mentalen Kollaps erleiden.
Bücher sind ein Resonanzboden für unseren Geist – aus manchen Büchern wachsen wir heraus, für andere sind wir noch nicht reif, andere treffen wir zum genau richtigen Zeitpunkt. Dieser Roman hat ein philosophisches Format, das ist heute selten worden. Komfortabel dosiert in einer ruhigen Stunde bei Rotwein und Kerzenschein Philosophie konsumieren, das ist nicht ihre Sache. Ayn Rand hat diese Geschichte vor über sechzig mit fast schon hellseherischen Fähigkeiten geschrieben und wird neben George Orwell und Aldous Huxley ihren Platz finden. Dieses Buch zu lesen ist eine geistige De-Programmierung – erst schmerzhaft, dann umso befreiender. Für mich war danach mein weiterer Weg klarer.
Zwei grundlegende Prämissen hat sie, die den Menschen verorten: Es gibt eine objektive Realität in einer kausalen Welt, mit der wir leben müssen – oder wir sterben. Die Gesetze des Lebens können ignoriert werden, sie werden aber uns nicht ignorieren. Alles postmoderne Gerede und Wortverdreherei, alle Propaganda und alle theoretischen Konzepte zur Verbesserung der Welt scheitern am Ende an der Wirklichkeit. Das kann allerdings dauern und wir müssen entscheiden, was wir in dieser Zeit tun und lassen.
Den „Sündenfall“ sieht sie als ein Geschenk. Durch die Erkenntnis von Gut und Böse hat der Mensch eine Moral entwickelt, um sein Brot durch Arbeit zu verdienen, musste er produktiv werden und durch die Lust beim Sex fand er Freude und zu seiner Schöpferkraft. Das sind die Kardinalwerte seiner Existenz, durch sie wurde er erst zum Menschen. Körper und Bewusstsein sind bei ihr keine Gegensätze, sie gehören zusammen. „Ein Körper ohne Seele ist ein Leichnam, eine Seele ohne Körper ein Gespenst.“
Ayn Rand ist nicht atheistisch im herkömmlichen Sinn, sie braucht keinen Gott. Wenn der Mensch in seine Schöpferkraft kommt, findet er selbst in seine Göttlichkeit. Da sind christliche Konzepte von Schuld und Opfer nur Mittel zur Herrschaft und ein fernöstliches Konzept von Wiedergeburt hindert uns das zu tun, was jetzt getan werden kann oder muss.
Du musst denken, du musst vor allem selbst denken und dich nicht darauf verlassen, was andere sagen. Es ist dein Leben. Es ist deine Freiheit. Du hast die Verantwortung für dein Leben. Das gesamte Buch ist ein Aufruf zum Leben, zur Schaffenskraft und zur Lebensfreude, ja Lebenslust. Dafür müssen wir erst einmal wieder in der Realität, im Hier und Jetzt ankommen und geistigen Ballast abwerfen.
So definiert sie sozial auch ganz weltlich um: was mir nutzt, nutzt auch den anderen, denn sonst würden sie es nicht in einem freien Marktverhältnis bei mir kaufen. Daraus können wir ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln und unsere Ängste loslassen. Zu oft gehen wir noch aus Bequemlichkeit in die Falle des Selbstverrats und lassen es zu, dass die Hoffnung gegen uns verwendet wird, statt einfach nicht mehr mitzumachen. „Es ist eigenartig, wie einfach die Dinge werden, wenn man sie klar sieht.“
Ayn Rands gesamter Entwurf orientiert sich an den Starken, die das Beste aus sich herausholen, an einem Adel durch herausragende Leistung und nicht an den Schwachen, Kranken und Bedürftigen. Das ist eine grundsätzliche Richtungsentscheidung, die sich bewusst zu machen lohnt. Sie feiert das Leben, die anderen den Schmerz und das Leid, am Ende den Tod. In der Thermodynamik nennt man den Zustand, wenn alles irgendwann gleich ist, den Wärmetod des Universums.
Ohne Frage gibt es Argumente gegen ihre Ansichten, aber jeder sollte sich fragen, welche davon auf seiner inneren Ablehnung und seinen erlernten Vorurteilen mit ausgefeilten Konzepten und einer gut gepflegten Begrifflichkeit beruhen. Bei der Durchsicht der ersten Seiten der Google-Suchergebnisse habe ich mich gefragt, ob wir die gleiche Autorin gelesen haben.
Wenn Sie in Ayn Rands „Shambala“, ihre Utopie der freien Menschen, Eintritt haben wollen, dann müssen sie aus ihrer inneren Mitte den Schwur leisten können: „Ich schwöre bei meinem Leben und der Liebe zu ihm, dass ich niemals für einen anderen Menschen leben werde und von keinem Menschen verlange, dass er für mich lebt.“ Und, können sie das?